Lehrvideo zur Selektivität von Schmelzsicherungen

Vergleich mit Selektivität von Leitungsschutzschaltern

Wenn Du mein Video zur Selektivität von Leitungsschutzschaltern kennst, dann weißt Du: Mit normalen Leitungsschutzschaltern kann man Selektivität nur in einem bestimmten Bereich garantieren, aber nicht im gesamten Auslösebereich.

Der Vorteil an Schmelzsicherungen: Mit denen funktioniert das durchaus. Leider kursieren aber über dieses Thema viele falsche Aussagen. Und damit räume ich in diesem Video auf. Ich will mir einmal zusammen mit Euch anschauen, ob (und wenn ja, unter welchen Bedingungen) die folgenden beiden Aussagen stimmen.

Bekannte Regeln zur Selektivität von Schmelzsicherungen:

  1. Aussage: Schmelzsicherungen verhalten sich selektiv zueinander, wenn der höhere Auslösestrom mindestens zwei Bemessungsstrom-Stufen höher liegt als der niedrigere.
  2. Aussage: Schmelzsicherungen verhalten sich selektiv zueinander, wenn Ihre Auslöseströme im Verhältnis von mindestens 1,6:1 zueinander stehen.

Liste der verfügbaren Bemessungsstrom-Stufen:

2, 4, 6, 10, 13, 16, 20, 25, 32, 35, 40, 50, 63, 80, 100, 125, 160, 200, 224, 250, 315, 355, 400, 500, 630, 800, 1000, 1250

Beispiele zur Selektivität von Schmelzsicherungen

Und nun einige Beispiele von Sicherungspaaren. Bei einigen funktionieren die beiden Aussagen, bei anderen aber nicht:

  1. Beispiel: Sind 2-A- und 4-A-Sicherungen selektiv zueinander? Das Verhältnis ist 2:1, also sogar besser als 1,6:1. Allerdings wurde nur eine Bemessungsstrom-Stufe übersprungen. Außerdem überschneiden die Kennlinien sich, was gegen Selektivität spricht.
  2. Beispiel: Sind 10-A- und 16-A-Sicherungen selektiv zueinander? Das Verhältnis ist exakt 1,6:1 UND es wurde zwei Bemessungsstrom-Stufen nach oben gesprungen. Trotzdem gibt es auch hier Überschneidung in den Kennlinien.
  3. Beispiel: Sind 35-A- und 50-A-Sicherungen selektiv zueinander? Auch hier wurde zwei Bemessungsstrom-Stufen nach oben gesprungen. Aber das Verhältnis passt nicht, denn es ist: 1,428:1. Außerdem überschneiden die Kennlinien sich.
  4. Beispiel: Sind 100-A- und 160-A-Sicherungen selektiv zueinander? Genau wie bei 16 A und 10 A ist das Verhältnis exakt 1,6:1. Auch hier wurde um zwei Bemessungsstrom-Stufen nach oben gesprungen. Die Situation erinnert also an Beispiel 2. Der Unterschied: Hier überschneiden die Kennlinien sich nicht.
  5. Beispiel: Sind 400-A- und 630-A-Sicherungen selektiv zueinander? Es wurde um zwei Bemessungsstrom-Stufen nach oben gesprungen und die Kennlinien haben keine Überschneidung. Allerdings ist das Verhältnis nur fast 1,6:1 – nämlich 1,575:1.

In den meisten dieser Beispiele widersprechen sich die Aussagen 1 und 2 oder die Aussagen widersprechen dem, was man in der Kennlinie sehen kann. Sind diese Aussagen also falsch? Oder wurde in den Beispielen die falsche Vorgehensweise gewählt?

So viel kann ich schon einmal verraten: An beiden Aussagen ist etwas dran, aber keine davon ist komplett richtig. Am Ende dieses Textes (oder Videos), wirst Du die folgenden Lücken ausfüllen können:

  • Beide Aussagen gelten nur für Schmelzsicherungen mit Bemessungsströmen von mehr als ____ und nur für die Betriebsklasse ___.
  • Das Springen um zwei Stufen gilt nur für die Sicherungsstufen, die ____ in der Norm ________ enthalten waren. Mittlerweile gibt es die zusätzlichen Stufen _______ und ___.
  • Um das Verhältnis von 1,6 und höher zu prüfen, wird der ___________ durch den _____________ geteilt und das Ergebnis auf ___________________gerundet.

Gültigkeitsbereich der Regeln zur Selektivität

Zunächst zu Beispiel 1: Wie so oft, bin ich in keinem Fachbuch fündig geworden und im Internet natürlich auch nicht. Das einzige, was geholfen hat, war der Blick in die Norm (in diesem Falle die VDE 0636). Der Schlüssel liegt nämlich in einer kleinen, aber sehr wichtigen, Einschränkung. Und die wird meist vergessen. Die Einschränkung lautet: Die Aussagen gelten nur für Sicherungen ab 16 A und nur für die Betriebsklasse gG. Zitat: „In Reihe geschaltete „gG“-Sicherungseinsätze mit Bemessungsströmen von 16 A und darüber mit einem Bemessungsstromverhältnis von 1:1,6 müssen […] selektiv arbeiten […]“. Damit kann also bereits der erste Lückensatz gefüllt werden:

  • Beide Aussagen gelten nur für Schmelzsicherungen mit Bemessungsströmen von mehr als 16 A und nur für die Betriebsklasse gG.
  • Das Springen um zwei Stufen gilt nur für die Sicherungsstufen, die ____ in der Norm ________ enthalten waren. Mittlerweile gibt es die zusätzlichen Stufen _______ und ___.
  • Um das Verhältnis von 1,6 und höher zu prüfen, wird der ___________ durch den _____________ geteilt und das Ergebnis auf ___________________gerundet.

Damit sind also die Beispiele 1 und 2 erklärt: Beide Sicherungen müssen größer sein als 16 A, damit die Regeln gelten. Dies ist dort nicht der Fall. Für die Anwendung der beiden oben genannten Aussagen bleiben also die folgenden Bemessungsstrom-Stufen:

2, 4, 6, 10, 13, 16, 20, 25, 32, 35, 40, 50, 63, 80, 100, 125, 160, 200, 224, 250, 315, 355, 400, 500, 630, 800, 1000, 1250

Aussließlich national genormte Bemessungsstrom-Stufen von Schmelzsicherungen

Aber was ist mit Beispiel 3? Dort haben wir 35 Ampere und 50 Ampere. Beide sind also größer als 16 A. Es wurde um zwei Bemessungsstrom-Stufen gesprungen, nämlich nach 40 A und dann noch nach 50 A. Aber das Verhältnis ist nur 1,4:1. Da scheinen sich die beiden Regeln also zu widersprechen.

Auch hier bin ich wieder nur in der Norm fündig geworden. Und dieses Mal musste ich sogar zusätzlich noch eine alte Version der Norm anschauen, bevor ich das Problem gefunden habe. In der VDE 0632 aus dem Jahr 2010 waren gar nicht alle Sicherungsstufen definiert, die man oben in der Liste sieht. 35, 224 und 355 gab es dort nicht. Wenn man diese beim Springen um zwei Stufen unberücksichtigt lässt, dann funktioniert es. Dann sind die beiden Aussagen deckungsgleich: Man kann entweder um zwei Bemessungsstrom-Stufen nach oben springen oder man kann das Verhältnisses ausrechnen und schauen, ob es größer oder gleich 1,6:1 ist.

Die Lücken im zweiten Satz können wir also auch füllen:

  • Beide Aussagen gelten nur für Schmelzsicherungen mit Bemessungsströmen von mehr als 16 A und nur für die Betriebsklasse gG.
  • Das Springen um zwei Stufen gilt nur für die Sicherungsstufen, die 2010 in der Norm VDE 0636 enthalten waren. Mittlerweile gibt es die zusätzlichen Stufen 35, 224 und 355.
  • Um das Verhältnis von 1,6 und höher zu prüfen, wird der ___________ durch den _____________ geteilt und das Ergebnis auf ___________________gerundet.

Die Liste der Bemessungsstrom-Stufen, für die die Anwendung der beiden oben genannten Aussagen gilt, reduziert sich also wie folgt:

2, 4, 6, 10, 13, 16, 20, 25, 32, 35, 40, 50, 63, 80, 100, 125, 160, 200, 224, 250, 315, 355, 400, 500, 630, 800, 1000, 1250

Feststellung der Selektivität mittels des Faktors 1,6

Man kann nun einmal anhand von Beispiel 4 prüfen, ob die Aussagen angewendet werden können. 100 Ampere und 160 Ampere. Das Verhältnis ist 160 zu 100, also exakt 1,6:1. Es wurde um zwei Stufen nach oben gesprungen: Erstens von 100 nach 125 und zweitens von 125 nach 160. Die Kennlinien haben keine Überschneidungen. An dieser Stelle kann also kein Widerspruch mehr entdeckt werden.

Damit wären die Beispiele 1 bis 4 also erklärt. Aber was ist mit Beispiel 5? 630 Ampere und 400 Ampere. Das Verhältnis ist, wie gesagt, nur ungefähr 1,6:1. Aber es wurden zwei Bemessungsstrom-Stufen übersprungen und es ist auch keine der genannten Stufen (35, 224 und 355) dazwischen. Herrscht hier Selektivität oder nicht?

Zur Lösung dieser Frage habe ich mir jede einzelne Tabelle in der Norm angeschaut. Die meisten beschäftigen sich mit den Kennlinien. Kennlinien haben kleine Prüfströme, große Prüfströme und zwei Punktepaare als Tore. Hierzu empfehle ich dieses Video. Diese Tore und Prüfströme hab ich mit einer Mathematik-Software geplottet und darauf basierend einmal die Kennlinien aller Sicherungsstufen gezeichnet. Das war erforderlich, weil die Kennlinien in den Fachbüchern zu klein sind, um alles zu erkennen und weil man dort keine Kennlinien ausblenden kann. In meinem Zeichenprogramm kann ich aber die Kennlinie der 500-Ampere-Sicherung ausblenden und dadurch 630 und 400 vergleichen. Man erkennt dann, dass es hier keine Überschneidung gibt. Allerdings muss für die Feststellung der Selektivität noch ein weiterer Punkt beachtet werden.

I²t-Werte von Schmelzsicherungen

Die Kennlinien enden bei 10^-1 Sekunden, also 100 ms. Wir wissen aber, dass Schmelzsicherungen manchmal noch viel schneller auslösen als in 100 ms. Zudem werden die Kennlinien unten, wie im Video zu sehen, immer breiter. Wenn man diese nach unten weiter zeichnen würde, würden sie sich dann doch irgendwann schneiden?

Nein, würden sie nicht. Oder, genauer gesagt: Man kann sie gar nicht einfach so weiter zeichnen. Das liegt daran, dass ab ca. 100 ms und weniger der Zeitpunkt in der Sinuskurve wichtig ist, zu dem der Kurzschluss stattfindet. Findet der Kurzschluss direkt am Anfang statt, sind die Ströme noch niedriger, sie müssen also etwas länger fließen. Entsteht der Kurzschluss in der Nähe des Höhepunktes der Sinuskurve, so fließt von Anfang an ein ziemlich hoher Strom; es geht also schneller. Das ist natürlich eine vereinfachte Erklärung, aber Ihr könnt mir gerne bei YouTube unter das Video schreiben, falls Ihr mehr dazu wissen möchtet. Das Thema ist interessant, dazu kann ich vielleicht noch ein Video machen.

Hier also nur komprimiert: Damit man den Auslösevorgang nicht immer in jedem Einzelfall analysieren muss, gibt es die sogenannten I²t-Werte. Diese sagen, vereinfacht gesagt, ab welcher Wärmeenergie der Schmelzdraht in einer Sicherung schmilzt. Die Wärmeenergie kommt dabei von dem fließtenden Strom. Je größer der Strom, desto mehr Wärme und je länger der Strom fließt, desto mehr Wärme. Die Schmelzdrähte schmelzen ab einer bestimmten Wärmemenge. Um die Wärmemengen der verschiedenen Schmelzleiter miteinander vergleichen zu können, gibt es diese I²t-Werte. Genauer gesagt: Jede Sicherung hat zwei I²t-Werte. Einen unteren I²t-Wert, der (vereinfacht gesagt) aussagt, welche Wärmemenge die Sicherung verträgt, ohne bleibende Schäden davon zu tragen. Und einen oberen I²t-Wert, der aussagt (vereinfacht gesagt) aus, bei welcher Wärmemenge die Sicherung zu Ende abgeschaltet hat.

Ist der untere Wert der großen Sicherung gleichgroß oder größer als der obere Wert der kleinen Sicherung, dann wird die größere Sicherung nicht auslösen. Es herrscht also Selektivität.

Die I²t-Werte stehen in der VDE 0636. Diese habe ich für alle Sicherungen miteinander verglichen. Dabei habe ich herausgefunden, dass der oberer Wert der kleinen Sicherung immer exakt dem unteren Wert der großen Sicherung entsprich, wenn man die beiden oben genannten Aussagen anwendet. Dies kann in der Tabelle 113 in der VDE 0632-2 selbst überprüft werden.

Damit komme ich zum dritten Lücken-Satz:

  • Beide Aussagen gelten nur für Schmelzsicherungen mit Bemessungsströmen von mehr als 16 A und nur für die Betriebsklasse gG.
  • Das Springen um zwei Stufen gilt nur für die Sicherungsstufen, die 2010 in der Norm VDE 0636 enthalten waren. Mittlerweile gibt es die zusätzlichen Stufen 35, 224 und 355.
  • Um das Verhältnis von 1,6 und höher zu prüfen, wird der größere Wert durch den kleineren Wert geteilt und das Ergebnis auf eine Nachkommastelle gerundet.

Empfohlene Methode zur Feststellung der Selektivität:

  1. Prüfen, ob beide Sicherungen größer als 16 A sind.
  2. Prüfen, ob es die Betriebsklasse gG ist.
  3. Den größeren Wert durch den kleineren teilen und auf eine Nachkommstelle runden. Ist das Ergebnis größer oder gleich 1,6, so ist Selektivität gegeben.

Hier noch zwei weitere Beispiele:

Sind 25 und 16 Ampere selektiv? 25:16 ergibt 1,56. Ab 5 wird aufgerundet, das heißt wir haben 1,6. Die Bedingung ist erfüllt, 25 und 16 verhaltens sich also selektiv zueinander.

Sind 35 und 25 Ampere selektiv? 35:25 ergibt 1,4. Es braucht also nicht gerundet zu werden. 1,4 ist kleiner als 1,6. Die Bedingung ist also nicht erfüllt, 35 und 25 verhaltens sich also nicht selektiv zueinander.

Übungsaufgaben zur Selektivität von Schmelzsicherungen

Hast Du die Methode verstanden? Falls ja, dann kannst Du bestimmt die folgenden Übungsaufgaben lösen. Ran an die Übungen – Sportschau gucken gibt schließlich keine Muskeln. Sind die folgenden gG-Sicherungseinsätze jeweils selektiv zueinander?

  1. 125 und 80
  2. 800 und 500
  3. 20 und 13
  4. 40 und 25
  5. 160 und 63
  6. 200 und 125
  7. 50 und 35
  8. 50 und 32

Hier geht’s zur Lösung.